Die Notwehr ist ein scharfes Schwert. Allerdings gibt es auch hierfür Ausnahmen. Dass das so ist, lässt schon der Wortlaut des § 32 StGB erkennen ([…], die durch Notwehr geboten ist, […]). Da dieser Gesetzesbegriff allerdings einer Leerformel gleichkommt, die allein die Möglichkeit der Einschränkung einer erforderlichen Notwehrhandlung eröffnet, hat die Rechtsprechung Fallgruppen entwickelt, um die sozialethischen Konstellationen einzuordnen, in denen eine erforderliche Notwehrhandlung nicht gerechtfertigt sein soll:
- Eine Notwehrhandlung ist nicht geboten, wenn sie gegen die Menschenwürde verstößt.
- Eine Notwehrhandlung ist nicht geboten, wenn durch sie ein Rechtsgut geschützt werden soll, dass im Rang weit unter dem durch die Notwehrhandlung verletzten steht.
- Eine Notwehrhandlung ist nicht geboten, wenn sie gegenüber einer besonders schutzwürdigen Person ohne vorheriges Ausweichen, Schutzwehr und Trutzwehr erfolgt.
- Eine Notwehrhandlung ist nicht geboten, wenn sie durch eine absichtliche Provokation des Anderen herbei geführt wurde.
Und weil ich mir persönlich diese Fallgruppen besser merken kann, wenn sie ein wenig plastischer daher kommen, möchte ich hier meine Sketchnotes zu den vier Fallgruppen mit euch teilen.
1. Der Verstoß gegen die Menschenwürde
Dass die Androhung von Folter durch einen Polizeibeamten keine gebotene Notwehrhandlung darstellt, ist inzwischen auch vom EGMR GÄFGEN v. GERMANY(Application no. 22978/05)) bestätigt worden. Grundlage der umstrittenen [!] Entscheidung ist ein Entführungsfall, der euch sicher schon über den Weg gelaufen ist.
2. Das krasse Missverhältnis des betroffenen Rechtsgüter
Die Rechtsgüter des Einzelnen stehen in einer Rangfolge zueinander. Als höchstes Rechtsgut gilt das Leben. Dementsprechend kann es nicht gerechtfertigt sein, den Dieb von Eigentum mit wenig materiellen Wert deshalb zu töten. Wer kennt den Standardfall den ich hier abgewandelt habe?
3. Die besonderen Umstände des Angreifenden
Auch in der Person des Angreifenden selbst kann kann ein Grund dafür liegen, dass die gewaltsame Reaktion auf einen Angriff nicht gerechtfertigt ist. Das ist etwa bei kleinen Kindern, nahestehenden Verwandten, [intakten] Ehen und schuldlosen Angreifern der Fall. In all diesen Fällen muss der Angegriffene zunächst ausweichen, dann abwehren und zuletzt selbst zum Gegenangriff übergehen. Dieser Gegenangriff muss möglichst schonend sein.
4. Die Absichtsprovokation
Die herrschende Meinung lässt aufgrund der Absichtsprovokation das Notwehrrecht vollständig entfallen. Wer einen Angriff absichtlich provoziert, soll sich nicht rechtfertigen können. Ohne das absichtlich provozierende Verhalten, wäre es schließlich nicht zu dem Angriff gekommen. Der wahre Angreifer ist insofern der Provozierende. Aber Vorsicht: fällt die Reaktion gewaltsamer aus, als der Provozierende voraus gesehen hat, gilt das Notwehrrecht für den überschießenden Teil, wenn auch nach der herrschenden Meinung nur eingeschränkt.
Weiterführende Links
- Beitrag zur Notwehr bei Juracademy
- JuS 2007, 1011 (Übungsklausur zum Thema)
- Schönke/Schröder StGB § 32 Rn. 44 ff. (30. Auflage 2019)